Seriously mad but quite normal: Der Anruf

26. Oktober 2013

Der Anruf




Eines Morgens klingelte das Telefon. Ich nahm ab und eine krächzende Stimme sagte: "Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, dann atmen Sie ruhig weiter!" Der Anrufer legte auf, bevor ich auch nur Atemholen konnte, um etwas zu fragen oder zu erwidern. Missgelaunt - es war sechs Uhr morgens, und ich schlafe gerne lange - warf ich den Hörer auf die Gabel meines antiken Telefonapparates. "Was für ein Arsch!" rief ich wütend in den Raum. Doch niemand achtete darauf, denn ich war allein. Ich drehte mich mit einem Ruck zur Seite, um unbedingt noch weiterschlafen. Doch so sehr ich es auch wollte, - es gelang mir nicht. Stattdessen gingen mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Was meinte der Anrufer mit diesem kryptischen Satz? War es eine Drohung? Oder doch nur ein harmloser, wen auch unverschämter Scherz? Während mich diese und andere Fragen beschäftigten, wälzte ich mich von einer Seite zur anderen. Schliesslich sah ich ein, dass an Schlaf nicht mehr zu denken sei. Grummelnd stand ich auf und begab mich ins Badezimmer, um meine Morgentoilette zu verrichten. Doch schon bei der Rasur wälzte ich wieder Fragen über Fragen. Meine Stimmung schwankte beständig zwischen Nachdenklichkeit und Wut. Ich versuchte es mit Vernunft. Dieser Satz war keine Drohung! Er sprach eigentlich nur etwas Selbstverständliches aus. Natürlich musste man atmen, wenn man leben wollte. Aber es ist ja nun - von ein paar seltsamen Erkrankungen abgesehen - nicht so, dass man so einfach vergessen könnte, Luft zu holen. In dieser Hinsicht hatte sich mein Körper im Laufe des Lebens als ziemlich zuverlässig erwiesen. Blieb also nur die Möglichkeit, einem Scherzbold aufgesessen zu sein. Aber in mir regte sich der mulmige Gedanke, dass irgendetwas in der Stimme des Anrufers mir etwas anderes vermittelt hatte. Seine Worte waren so ernst, so nachdrücklich, fast eindringlich und besorgt ausgesprochen worden. Aber dennoch ergab alles einfach irgendwie keinen Sinn. Ich stellte den Kaffeeautomaten an und bereitete mir einen starken Mokka. Nach einiger Zeit schrak ich auf und stellte fest, dass ich so in Gedanken versunken gewesen war, dass der Mokka nicht nur längst fertig war, sondern auch schon begann zu erkalten. Ich wurde zunehmend nervöser und wusste nicht warum. Wollte mir der Anrufer verklausuliert eine Warnung zukommen lassen? Konnte es sein, dass er nicht allein gewesen war, und mich deshalb nicht im Klartext warnen konnte? Oder war es gar ein versteckter Hilferuf einer in höchster Bedrängnis befindlichen Person? Meine Aufregung wuchs. Ich begann vorsichtig aus den Fenstern zu sehen, um festzustellen, ob rings um das Haus etwas Verdächtiges zu entdecken sei. Was war das für ein Transporter auf der gegenüberliegenden Seite der Straße? Ich hatte ihn noch nie in unserer Gegend gesehen. Und warum fuhr er jetzt plötzlich los? Hatten der oder die Insassen bemerkt, dass mir der Wagen aufgefallen war? Leider konnte ich das Kennzeichen nicht erkennen. Und wer war der Typ, der ein paar Häuser weiter so auffällig langsam mit seinem Köter herumspazierte? Auch ihn hatte ich noch nie gesehen. Wieder meldete sich die Vernunft bei mir, um mir klarzumachen, dass es nicht verwunderlich sei, wenn mir hier viele Menschen unbekannt wären. Schliesslich wohnte ich erst seit drei Wochen in diesem Viertel. Ob es vielleicht am Ende damit zusammenhing? Wollte irgendein dubioser Typ nicht, dass ich hier wohne? Hatten die Leute hier etwas zu verbergen? Wieder fiel mir eine Person auf, eine junge Dame diesmal, die sich mein Porsche Cabrio näher ansah. Wollte sie irgendetwas am Auto machen? Und da, - jetzt holte sie ihr Handy heraus und telefonierte. Gab sie etwa Komplizen mein Kennzeichen durch, damit man mich beschatten konnte? Sie blieb nach dem auffallend kurzen Telefonat bei meinem Wagen stehen und beobachtete die Straße. Konnte es sein, dass man verbrecherischen Elementen auf der Spur war, und mich (oder mein Auto?) einfach mit jemandem verwechselt hatte? Oder waren ausländische Geheimdienste hinter mir her? Und wenn ja, wieso eigentlich? Meine Atemfrequenz und mein Blutdruck stiegen stetig an. In was war ich da hineingeraten? Ich machte mir einen neuen Mokka und goss mir, ganz gegen meinen Gewohnheiten, schon jetzt am Morgen einen doppelten Cognac ein. Er brannte im Magen, aber zwei Schluck Kaffee brachten sofort Besserung. Danach breitete sich eine beinahe beruhigende Wärme im Bauch aus. Ich trank meinen Mokka aus und machte mir noch eine dritte Tasse. Als ich wieder aus dem Fenster sah, beobachtete ich, wie die junge Frau in eine dunkle Limousine einstieg, die mit quietschenden Reifen davonschoss. Oh mein Gott, was waren da für Leute hinter mir her? Ich ging hastig ins Schlafzimmer, holte meinen kleinen Koffer heraus und begann die notwendigsten Dinge zu packen. Vielleicht musste ich von hier ja nun plötzlich verschwinden. Dann war es gut, wenn man vorbereitet war und alles parat hatte. Aus dem Schranksafe holte ich den Reisepass und das Bargeld, und stopfte alles in meine Brieftasche. 

Fortsetzung folgt

© drago 2013 

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